Von Helgoland nach Gran Canaria
James Krüss, gelernter Insulaner
»Am letzten Maitag 1926, am Nachmittag, kam ich verspätet, aber gern zur Welt. Weiße Segel umkreisten die Insel, die Hebamme duftete nach Rosen (sie war auch die einzige Blumenhändlerin der Insel) und meine Mutter sang. Nur mein Vater weinte.«
So beschrieb James Jacob Hinrich Krüss in einer ersten »Autobiographischen Skizze« seine Geburt auf Helgoland. Die Nordseeinsel liegt knapp fünfzig Kilometer vom Festland entfernt und ist Deutschlands einzige Hochseeinsel, wie viele sagen, auch wenn das weder geographisch noch rechtlich zutrifft, da sie nicht auf hoher See liegt. James Krüss verbrachte hier seine Kindheit, die ersten Jugendjahre, und wuchs in der überschaubaren Inselgemeinschaft zweisprachig auf. Zu Hause sprach man friesisch. Erst in der Schule lernte der kleine James, die deutsche Sprache richtig zu gebrauchen. Die Zeit auf Helgoland war prägend für ihn, er entfaltete dort, wie er selbst einmal sagte, zwei Talente: das Zuhören und das Erzählen. Auch seine Gabe zur Phantasie schrieb Krüss dieser Kindheit auf der Insel zu. Schon früh zeigte sich seine große Lust am Reimen und Fabulieren. Er war wissbegierig, immer bereit, sich auf Neues einzulassen, und beobachtete alles um ihn herum sehr aufmerksam.
»Ich bin gelernter Insulaner, von null bis sechzehn. Und irgendwann, als ich in München lebte, schwor ich mir, ich will wieder Insulaner werden. Aber auf einer Insel, die wärmer ist als Helgoland.«
James Krüss, 1991
Krüss strebt nach Höherem
Vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden Helgolands Nebeninsel Düne wie auch weite Teile der Hauptinsel Militärgelände, und während des Kriegs war Helgoland immer wieder Ziel von Bombenangriffen. Während des Baus der Zivilschutzanlage wurden Mütter, Kinder und schließlich alle Schüler zunächst evakuiert und mussten die Insel verlassen. So kam Krüss, gerade fünfzehn Jahre alt, zunächst nach Arnstadt in Thüringen, später nach Hertigswalde in Sachsen, insgesamt für ein Jahr. Die Mittelschule konnte er noch auf seiner geliebten Insel abschließen. Und weil er nach Höherem strebte und nicht auf den Mund gefallen war, überredete er den Pfarrer noch während des letzten Schuljahrs, ihm Latein beizubringen. Krüss lernte in einem Jahr so viel wie andere in fünfen, und so war er bald gut vorbereitet, um auf dem Festland sein Abitur zu absolvieren. Da die Eltern die Gebühren für die höhere Schule nicht aufbringen konnten, musste er sich »von Hitler bezahlen lassen«, wie er selbst in einem Interview im ORF erzählte, und er kam auf die staatlichen Lehrerbildungsanstalten. »Dort wurde schrecklich viel marschiert und Sport getrieben, was mir alles nicht so lag. Aber gleichzeitig waren es zum Teil auch sehr gute Schulen«, erinnerte sich Krüss.
Eine böse Überraschung
Ab 1944 studierte James Krüss an der Bernhard-Rust-Hochschule für Lehrerbildung in Braunschweig. Noch im selben Jahr wurde der inzwischen Achtzehnjährige zum Kriegsdienst bei der Luftwaffe eingezogen. Nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 kehrte er zu Fuß und per Rad von Böhmen, wohin es ihn verschlagen hatte, zurück nach Hamburg. Dort erwartete den heimkehrenden jungen Mann eine böse Überraschung. Unten bei den Landungsbrücken, wo die Dampfer in Richtung Helgoland ablegten, hörte James Krüss, seine Insel sei durch ein Großbombardement der Royal Air Force zerstört worden, keine Überlebenden. Er suchte seine Tante Luise auf, die in Hamburg wohnte, und kaum öffnete sich die Tür, stürzte die ganze Familie in den Flur, und Krüss erfuhr, dass bis auf seinen Großvater und Tante Lissie alle überlebt hatten – geschützt in der Zivilschutzanlage der Felsen von Helgoland und im April 1945 schließlich evakuiert.
Den Lehrern untreu, den Kindern die Treue haltend
Im Jahr 1946, sein erstes Buch »Der goldene Faden« war gerade erschienen, setzte Krüss sein Lehramtsstudium an der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg fort. Dort legte er 1948 sein Examen ab, doch Lehrer wurde er nicht. Er verstand sich weiter als Lernender, was ihn mit Erich Kästner verband, der später sein Mentor und Freund werden sollte. »Zu den gemeinsamen Zügen gehört«, schrieb Kästner 1961 in »Nachwort eines älteren Kollegen« über Krüss, »dass wir beide, blutjung und jeder zu seiner Zeit, die dornenvolle Laufbahn des Volksschullehrers aufgaben und uns aufs Schreiben verlegten, nicht zuletzt auf die Jugendschriftstellerei. Wir wurden den Lehrern untreu und hielten den Kindern die Treue.«
Statt also an einer Schule zu unterrichten, engagierte sich James Krüss nach dem bestandenen Examen zunächst für die von ihrer Insel vertriebenen Helgoländer. Er gründete die Zeitschrift »Helgoland. Ein Mitteilungsblatt für Halunder Moats«, die einmal im Monat erschien. Er war Herausgeber, Verleger, Redakteur und Vertriebsleiter zugleich und wurde von seiner Schwester Ernie beim Vertrieb unterstützt. Diese Zeitung sollte die über das ganze Land zerstreute Inselbevölkerung zusammenhalten, ehe die Menschen ab 1954 endlich wieder nach Helgoland zurückkehren konnten.
Umzug nach München
1948 zog Krüss zu seinem Verleger Max Bruhn nach Reinbek bei Hamburg. Nur ein Jahr später übersiedelte er nach München, wohnte dort bei einem befreundeten Ehepaar und erfreute sich der »südlichen Lebensart«, die ihm heiter und kindlich erschien. In dieser Zeit lernte er Erich Kästner kennen, der zu seinem Förderer wurde und ihm erlaubte, sein Kinderbuch »Die Konferenz der Tiere« in eine Hörspielfassung umzuarbeiten. Kästner war begeistert von der Umsetzung des jungen Kollegen und verhalf James Krüss zu wichtigen Kontakten beim Rundfunk. Die Karriere des Helgoländers nahm Fahrt auf.
In den Folgejahren unternahm James Krüss viele Reisen, was nicht nur seinen Horizont erweiterte, sondern auch seine ohnehin blühende Phantasie beflügelte. Unermüdlich arbeitete er an seinen Kinderbüchern, übersetzte Kinderliteratur, schrieb für den Rundfunk, und in den Sechzigerjahren wurde er auch für das Fernsehen engagiert. In dieser Zeit erschienen seine wichtigsten Werke, »Der Leuchtturm auf den Hummerklippen« (1956), »Mein Urgroßvater und ich« (1959), »Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen« (1962) und viele andere.
Ein Haus auf Gran Canaria
James Krüss wurde in den Jahren 1960 und 1964 zwei Mal der Deutsche Jugendbuchpreis verliehen. Diese medienwirksamen Auszeichnungen, die vielen Bücher, die er in diesen Jahren veröffentlichte, und seine zahlreichen Fernsehauftritte, bei denen er auch als Moderator vor der Kamera stand, machten ihn weithin berühmt. Der Medienrummel beeinflusste auch sein Privatleben, sodass er 1966 dem hektischen und öffentlichen Leben auf dem Kontinent nach Gran Canaria entfloh.
»Ich bin nicht hergekommen, um mir ein Haus zu kaufen«, erzählte Krüss in einem Radiointerview. »Ich wollte mir einen Kriminalroman ausleihen, und die Dame in der Bücherei sagte: Häuser haben wir auch. Und ich sagte, ach ja, dann schau ich sie mir mal an. Und das zweite Haus kaufte ich sofort. Damit war ich stolzer Hausbesitzer auf afrikanischem Grund.«
Endlich wieder Insulaner
Das Haus, das in den Bergen in der Nähe der Hauptstadt Las Palmas liegt, blieb Krüss' Domizil bis zu seinem Tod. Der Autor lebte dort mit seinem Partner, dem Tänzer Dario Perez – zu einer Zeit, als eine solche Beziehung zwischen Männern offiziell noch illegal war. Don Jaime, wie Krüss in seiner Wahlheimat genannt wurde, beschäftigte sich mit der Kultur, der Sprache, der Geschichte und Pflanzenwelt der kanarischen Inseln und fuhr nur noch für Besuche und Arbeitsaufenthalte nach Deutschland. Er blieb produktiv, und seiner Popularität als prominenter Kinderbuchautor tat dieser Umzug keinen Abbruch. Doch obwohl in seinem Haus auf Gran Canaria häufig Familienangehörige, Freunde und Weggefährten zu Gast waren, verlief sein Leben nun deutlich ruhiger. Aber Krüss war endlich wieder Insulaner.
»Ich war als Kind sehr gerne Kind, und ich hoffe, es bis in mein achtzigstes Lebensjahr auch als Erwachsener zu bleiben«, sagte Krüss über sich selbst. Doch dieser Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Am 2. August 1997 starb James Krüss, im Alter von 71 Jahren. Sein Leichnam wurde auf Gran Canaria verbrannt, und die Trauerfeier fand auf Helgoland statt, wo die Asche des Autors vor seiner geliebten Insel dem Meer übergeben wurde.